Geschichtenmensch
Enno liebt Geschichten, und er hat sie auf seiner Lebensreise zu seinem Beruf gemacht. Er arbeitet heute als Schauspieler bei Film und Fernsehen, leiht Hörbüchern und Hörspielen seine Stimme, und improvisiert seit über 30 Jahren live auf der Bühne Geschichten, Songs und Lyrik. 12 Jahre hat er vom Improtheater gelebt. Mit dem Zeichner Mehrdad Zaeri hat sein erstes Buch mit Kurzgeschichten heraus gebracht, „Teelichter“. 2020 hat er dank Corona zudem endlich Zeit gefunden, eine erste CD zu veröffentlichen, „Was sein soll“. Er arbeitet jetzt an seinem nächsten Buch, den „Geschichten aus dem Grenzland“. Enno hat hat Stipendien vom Land NRW bekommen. Seitdem fährt er mit seinem Geschichtenmobil nicht nur zu Drehs und Sprecherjobs, sondern tourt mit seinen Lesungen, Konzerten und Improvisationen durchs ganze Land. Er schreibt, komponiert am liebsten unterwegs. Nahbar, sehr naturverbunden, an den Menschen interessiert und ihren Geschichten. Daher Geschichtenmensch.
Nordfriese
Enno wuchs in Nordfriesland auf, im kleinen Dorf Rodenäs an der Dänischen Grenze. Wo die Menschen Moin sagen, und die Schafe Mäh – das dann aber in den fünf Sprachen Deutsch, Dänisch, Plattdeutsch, Plattdänisch und Friesisch. Dazwischen ist sehr viel Platz, auch für die eigene Fantasie. Schon als Kind fand Enno seine eigenen Landschaften in den weiten Flächen zwischen Himmel Erde, Land und Meer, Deutschland und Dänemark. Immer waren Geschichten da und Songs und Szenen Begleiter auf seinen langen Spaziergängen durch den Rickelsbüller Koog. Erst, um mit der Welt klar zu kommen mit ihren vielen Eindrücken. Dann mehr und mehr, um den Freiraum mit Geschichten und Monologen zu füllen, die er zunächst den Schafen und Seevögeln erzählte. Es gab dort kaum Konzerte, kein Theater, nur selten kam ein Kinovorführer in die Dorfgaststätte. Und trotzdem war so irgendwie immer alles da, auch wenn er selbst noch nicht wusste, dass man daraus einen Beruf machen kann.
GRENZLAND
(Textauszug aus: Geschichten aus dem Grenzland, Enno Kalisch)
Meine Unruhe ist die Unruhe vor dem Sturm in dieser geduckten Landschaft, in der die Berge aus Wolken sind und das Meer aus Gras. Das fruchtbarste Land unter Wasser liegt, und die Arche Noah an einem kleinen, windgeschorenen Baum lehnt oder in einer Silschonung flüchtig gebettet einfach so da liegt. Und ein kleines, flüsterndes Paradies ist unter den wogenden Starenschwärmen.
Sie hissen die dort Sort Sol. Die schwarze Sonne aus Staren, die sich im Herbst in amorphen Massen am Himmel und auf den Feldern sammeln im Grenzland zwischen Deutschland und Dänemark, zwischen Land und Meer, zwischen diesem Himmel und eben dieser Erde. Ich werde hier sein. Immer. Auch wenn das alles jetzt schon über ein halbes Leben lang her ist. Auch, wenn es erst schwer ist.
Als hätte ich wieder genau diesen Kleiboden unter den Füßen. Wenn man im Wind zu flattern anfängt und noch klein ist, kommt man nicht so leicht hoch und nicht davon von dem tiefen, klebrigen und voll gesogenen Grund. Auch wenn es die Flügel stärkt, dass man so beschwert ist beim üben. Hilflosigkeit macht sich nicht gut in einer Landschaft aus Greifvögeln, Mardern und Katzen und vergesst nicht die Hofhunde. Man sieht sie nicht, obwohl man weiss, dass sie einen sofort sehen würden oder schon längst gesehen haben.
Aber im Sturm hält Dich der Klei auch, nur so, dass du nicht einfach fort geweht wirst. Bist Du eine Kartoffel, so ist es das Paradies für Dich. Nur das viele Naß überall, das kann auch schnell für Fäulnis sorgen. Kein Kartoffelschnaps zwar, aber Köm und Beer und alles, was mit Cola erträglicher schmeckt als ohne. Manches Gesöff würde es gar nicht geben ohne die Kartoffel. Den Schnaps „1889″ gibt es nicht seit 1889, aber es beschreibt in etwa genau die Zahl von Konsumenten, die die Auftrechterhaltung dieses in Heide abgefüllten Weinbrandverschnitts so rentabel halten, dass er immer noch lokal zu erwerben ist. In Nordfriesland gibt es Schnaps in Pfandflaschen zu kaufen.
Das Flüssige ist flüchtig, und die Erinnerungen sind flüchtig, auch wegen dem ständigen Wind. Die Menge bringt Fäulnis und gesunde Erosion. Wasser kommt bekanntlich von See her, doch das Flüssige, das von Land seewärts Abgang sucht in die Sile und Prile, ist nicht selten das größere Problem. In windigen und stürmischen Zeiten können die Schleusen nicht geöffnet werden, dann staut es sich und staut sich und nimmt kein Ende, bis alles blank ist, und die Felder nur noch von Schlauchbooten befahren werden können. Im Idealfall perlt das Flüssige durch die Wurzeln der hiesigen Gewächse und unterstützt das gesunde Wachstum. Jedem sein winziges Inselchen, oder seine Hallig, landunter, saisonales Land, von allem so viel, zu viel, und gleichzeitig zu wenig. So wird es auch mit meinen Erinnerungen sein. Die jetzt kommen und gehen, wie das Wasser. Aber sie wollen raus, der Druck ist da und der Sog zugleich.
Auch deswegen muss es spuken hier. Spökenkiekeri, vor allem im Winter, wenn es ums Haus weht und weht über Tage ohne Abflauen. Das viele Wasser drückt sich durch das Land zurück in den Kreislauf. Ins Grenzland, bis in die träg dahin treibende Wiedau, bis in die Köge, die das Wasser einatmen und das Zugvolk aus, Süßes aufnehmen und Salziges und auf dem Feuerwehrfest auch mal Saures geben. Es gab immer Klopperei zwischen Aventoftern und Rodenäsern, das war die Natur. Gegenüber Sylt, drüber Zugvögel, und im Sommer immer wieder: Einsamkeit suchende Massen.
Hast Du Klei an den Füßen, brauchst Du starke Flügel, wenn Du keine Kartoffel bist und kein Grashalm oder Ried, oder kultivierter Futtermais oder BioRaps für die alternative, Ruhe suchende Industrie.
Und wenn du keinen Schnaps verträgst.